Neuronale Plastizität oder Neuroplastizität bezeichnet die Eigenschaft des Gehirns, durch Training veränderbar zu sein. Neuroplastizität ist damit die Grundvoraussetzung für jede Form des Lernens. Durch Training verändern sich die Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn, indem sie stärker oder schwächer werden. Ein Sinnbild dafür ist der sprichwörtliche “Trampelpfad”, der sich durch häufige Benutzung zu einer Autobahn entwickelt. Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich: Durch Nichtbenutzung können sich Verbindungen zurückentwickeln.
Ein bekanntes Beispiel für die Forschung an neuronaler Plastizität ist die Veränderung der Kartierung der Hirnrinde durch das Erlernen eines Instruments: In Abhängigkeit zur Trainingsintensität vergrößern sich in der Hirnrinde die Repräsentationen der motorischen und sensorischen Areale der Hand, die das Instrument führt.
Von den Neurowissenschaftlern Herraiz und Kollegen (2008) wird neuronale Plastizität wie folgt beschrieben: „Plasticity is the ability of the sensory system to change and adapt functionally after modifications in the acquisition of information.” Das Nervensystem kann sich also verändern und so auf veränderte Reize einstellen. Dies gilt ganz selbstverständlich für das heranwachsende Nervensystem. Aber auch im erwachsenen Gehirn findet neuronale Plastizität statt, sodass es über die gesamte Lebensspanne hinweg zu diesen Vorgängen kommt. Das Gehirn ist kein statisches Gebilde, sondern unterliegt fortlaufend Umbauprozessen (Møller, 2011).
Reorganisation im Sinne neuronaler Plastizität kann sich durch verschiedene Mechanismen vollziehen. Zum einen durch die Modulation der Intensität bereits bestehender Verbindungen zu anderen Nervenzellen:
Durch Langzeitpotenzierung kann eine Verbindung intensiviert werden, vergleichbar mit dem erwähnten, sprichwörtlichen schmalen Trampelpfad, der durch häufige Benutzung breiter wird und leichter zu passieren ist. Der andere Mechanismus ist die Ausbildung neuer Verbindungen mit anderen, umliegenden Nervenzellen durch kollaterale Aussprossung, also der Ausbildung neuer Synapsen. Die neuronale Plastizität kann also Verbindungen zwischen Nervenzellen entstehen lassen, die vorher gar nicht oder nur unbedeutend schwach vorlagen.
Neuroplastizität kann auch in der Hörrinde (auditiver Cortex), dem Hörzentrum des Gehirns auftreten: Die kartenähnliche Organisation (Kartierung) des auditiven Cortex ist nicht statisch, sondern plastisch. Diese Kartierung kann sich durch äußere Einflüsse verformen. Die Veränderungen in der Kartierung des auditiven Cortex lassen sich durch bildgebende Verfahren wie funktionaler Magnetresonanztomografie oder Magnetencephalographie nachweisen und darstellen.
Beim Tinnitus liegt im Gehirn häufig ein abnorm verändertes Aktivierungsmuster vor. Ein Großteil der aktuellen wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Tinnitus beschäftigt sich mit neuroplastischen Prozessen. Eine wichtige Hypothese über die Entstehung des Tinnitus ist, dass dieser durch fehlgeleitete Neuroplastizität im auditorischen Cortex begünstigt wird.
Neuere neurowissenschaftlich motivierte Ansätze der Tinnitustherapie zielen darauf ab - ihrerseits unter Ausnutzung der Fähigkeit zur Neuroplastizität - diese Prozesse umzukehren und so das abnorme Erregungsmuster zu reduzieren, das mit dem Tinnitus einhergeht.
Quellen: Herraiz, C., Diges, I., Cobo, P., & Aparicio, J. M. (2008). Cortical reorganisation and tinnitus: principles of auditory discrimination training for tinnitus management. European Archives of Oto-Rhino-Laryngology, 266, 9–16. doi:10.1007/s00405-008-0757-y | Møller, A. (2011). The Role of Auditory Deprivation. In A. Møller, B. Langguth, D. de Ridder, & T. Kleinjung (Eds.), Textbook of Tinnitus (pp. 77–98). New York: Springer.
Bitte klicken Sie Ihre Krankenversicherung an: